Zur Komik des Schubladendenkens

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Frankfurter Buchmesse, im Literaturhaus Frankfurt bei einer Veranstaltung/Lesung von Druckhaus Galrev, Oktober 1990, Stefan Döring; Bert Papenfuss-Gorek, Frankfurt/ Main

Lügen und Wahrheiten, Teil 2 - Erinnerungen an ein paar Dachschäden und Freiräume im alten Prenzlauer Berg.  Der Dichter Andreas Koziol sorgte in den achtziger Jahren in Ost und West für Furore in den Feuilletons. Auch die Stasi war in dem Künstler-Biotop im Prenzlauer Berg leibhaftig präsent. In seinem Essay "Lügen und Wahrheiten" berichtet er von einer fast vergessenen Epoche Ostberliner Subkultur.

Zur Komik des Schubladendenkens

Auf die Geschichte der Konsequenzen von ersten Einfügungsverweigerungen in das Aufbauwerk des Sozialismus will ich hier nicht näher eingehen. Die Konsequenzen waren überall die gleichen: Einschüchterungen, Aufbegehren, Resignation und, je nach Schicksal, viel Schlimmeres oder weniger Zerstörendes. Es sei hier nur, aus einem weit vorausgreifenden Impuls heraus, angemerkt, daß der spezielle, der verlorenheitsselige und augenblickstrunkene Holzweg, den anstelle eines normalen Werdegangs einzuschlagen ich mich bemüßigt fühlte, sich ein paar Abzweigungen später in eine jener engen Schubladen verwandeln sollte, in welche der kulturbetriebliche Erkennungsdienst alle möglichen Kunstphänomene zwecks besserer Unterscheidung voneinander hineinsteckt.

An „meiner“ Schublade klebt, so als wäre es für immer, eine Signatur, die auf dichterisches Treiben im Prenzlauer Berg während eines bestimmten Zeitraums hinweist, der ungefähr die letzte Dekade der DDR umfaßte. Es ist natürlich nicht nur unangenehm, eine Schublade im Ordnerschrank der Zeitgeschichte zu haben, so kann man sich noch lesen lassen, wenn man längst zu Staub zerfallen ist.

Andererseits entbehrt es nicht einer dunklen Komik, sich bereits in der staubigen Dimension eines abgeschlossenen Zeitraums abgelagert finden zu müssen, während man noch ziemlich lebendig ist, sich verändert und immer älter und skeptischer gegenüber der eigenen Vergangenheit wird. Das hat schon irgendwie etwas von einer Gruselgeschichte über ein Familiengrab, das der Protagonist nach langer Zeit der Abwesenheit einmal wieder besucht, um dann unter den Namen der Verblichenen plötzlich auch seinen eigenen Namen zu entdecken. Was soll er dabei denken? - Ich wußte noch gar nicht, daß ich schon tot bin? Oder: Was für ein Glück, daß man mich für tot hält, so kann ich endlich ein völlig neues Leben beginnen? - Den Effekt des unvermeidlich Gespenstischen daran will ich hier auf sich beruhen lassen. Aber komisch darf es schon sein, sich von seiner eigenen Schublade aufgezogen zu fühlen.

Komödie – das ist Tragödie plus Zeit, so die Definition von Woody Allen. Doch das weit zurückliegende Zeitgeschehen mit seinen tragischen, komischen, grotesken und farcehaften Auswüchsen auf dem Nährboden der biografischen Treibhausverhältnisse hinter dem Eisernen Vorhang läßt sich nicht eindeutig mit dem Namen einer der klassischen Stückeformen charakterisieren. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es jemals überhaupt bühnenreif war. So, wie es seit zwei Jahrzehnten in Kino, Fernsehen und Theater gezeigt wird, halte ich es selber je nach Darstellungsart und eigener Tagesform mal für interessant und mal nur für die kulturbetriebliche Manifestation des spießigen Vorurteils, daß alles inszenierbar sein müsse. Das liegt durchaus auch an dem technischen Machbarkeitswahn, von dem man sich früher nicht träumen ließ, daß er einmal alle Magie des Augenblicks entzaubern und statt ihrer sich in endlosen Exzessen der Visualisierung ergehen würde. Vielleicht bin ich aber auch nur zu alt, um für die überprogrammierte Gegenwart die Möglichkeit von wahrhaft magischen Momenten in Betracht ziehen zu können.

Doch einen von gestern wüßte ich noch: Etwa um die Mitte der 80er Jahre überraschte und begeisterte die Theatergruppe „Zinnober“ ihr Publikum mit dem Stück „traumhaft“, das mehr von den inneren Zuständen junger Leute in der DDR zur Sprache brachte, als bis dahin vorstellbar war. Die Schauspieler des Stücks spielten sich einfach selber, und das geriet ihnen deshalb zur verrücktesten Gelungenheit, weil man dabei nicht wußte, was da eigentlich gespielt wurde - spielten sie ihr Leben, oder spielten sie um ihr Leben? So etwas Einmaliges habe ich auf diesem Gebiet nie wieder gesehen, und es liegt an seiner Einmaligkeit, daß ich es nur ungern irgendwo einordnen würde, einmal abgesehen von der kaum bestreitbaren Wahrheit, daß jedes noch so Einmalige vor der Folgezeit kapituliert und dann zur Geschichte oder zur Glaubensangelegenheit wird.

In dem ein halbes Dutzend Jahre später erschienenen Buch, das unter dem Titel „traumhaft“ die Arbeit der Theatergruppe dokumentierte, fanden sich nur noch die papierenen Schatten ihres einstigen funkensprühenden Selbstinszenierungszaubers. Der bewegende abendfüllende Augenblick hätte der Nachwelt zuliebe von allen Seiten filmisch festgehalten werden müssen, aber dies war damals weder möglich noch wünschenswert, und wer weiß, ob er unter kameratechnischen Argusaugen überhaupt in seiner einmaligen Weise entstanden wäre.

Man muß auf eigentümliche Hybridformen gefaßt sein, wenn man noch einmal, sozusagen mit der Nachwendegabel, unter den Kompost der Zeitgeschichte gehen will, um das damals so genannte alternative Kunstmilieu des Prenzlauer Bergs einer halbwegs neutralen Retrospektive zu unterziehen. Wobei ich weder so ganz neutral sein, noch mich an die durch Ausstellungen und Thementage in Literaturhäusern gesetzten Retrospektive-Standards halten kann. Ich verstehe alles vorherige und hier weiterhin folgende eher als nur grob sortierte Materialien für eine lange Selbsttherapie, in welcher eine Menge Träume, aber keine Märchen, erzählt und gedeutet werden sollen.

Allein mit der intuitiven Sprache des Herzens kann man natürlich keine richtige Analyse machen, gleichwohl es sicherlich jedem einleuchtet, daß bei jeder richtigen Analyse auch die Sprache des Herzens etwas zu sagen haben muß, wenn man keine kalten Ermittlungsrituale einer von vornherein feststehenden Wahrheit zelebrieren will.   

Situationsbeschreibung

Eine Beschreibung jener Situation aus eigener Sicht könnte etwa so beginnen: In einer idealen (aber nicht gerade von Plato erdachten) Gesellschaftsform sollte man theoretisch beides sein können: unabhängiger Künstler und mündiger Mensch. Im real existierenden Sozialismus, innerhalb der vollendeten Tatsachen der die Staatsmacht behauptenden marxistisch/leninistischen Ideologie, mußte man sich bei dem Versuch, sich diese Freiheiten trotzdem irgendwie herauszunehmen, zwangsläufig übernehmen. Die auf das sozialistisch genannte Gesellschaftsexperiment „auf deutschem Boden“ bezogene Geschichte setze ich hier als genügend bekannt voraus, um mich ungehindert in einen kleinen Zeitabschnitt zurückdenken zu können, der die Gedanken und Empfindungen eines jungen, künstlerisch interessierten und eher unpolitisch gesinnten Mannes in Ostberlin etwa ab 1977 enthalten hat.

Ich bedaure, mich dabei etwas umständlicher ausdrücken zu müssen, als es den voraussichtlichen Erwartungen an einen Text über ein ein vergleichsweise unscheinbares Thema entspricht und hoffe, nicht mit dem Zusatz, daß ich selber der junge Mann war, mir den Verdacht einer nachträglichen Wichtigtuerei zuzuziehen. Es erscheint mir sinnvoll, daran zu erinnern, daß damals eine innere Situation vorherrschte, in der man sich mit jedem Versuch, die Macht herauszufordern, nur übernehmen konnte. Man konnte in dieser Richtung eigentlich fast gar nichts unternehmen, außer den äußeren Gang der Dinge abzuwarten und den waffenstarrenden Mauersozialismus bei seiner langsamen Selbstzersetzung zu beobachten.

Auch die von der Realität im Kern vielleicht gar nicht berührte sozialistische Idee konnte als Gefangene eines in ihrem Namen regierenden Systems, das im Verfall begriffen war, kaum anders als ein Verfallssympton begriffen werden. Es war das Schleichende, das immer wieder Innehaltende an diesem langen Verfallsprozeß, das einem Gelegenheit geben und zumeist auch keine andere Wahl lassen sollte, als die, sich im Ruinösen einzurichten. Man muß sich an den lähmenden Bann der nahezu stillstehenden, ständig von der Angst vor falschen Bewegungen kontrollierten Verhältnisse erinnern, an den Einschüchterungszauber der nachkriegsdeutschen Wohlverhaltensmentalität, der nur durch entschiedenes Fluchtverhalten gebrochen werden konnte.

Doch wohin sollte einer fliehen, wenn er weder den Staat verbessern noch in den Westen wollte? Nach innen, wohin denn sonst, in die undeutlichen Freiräume des inneren Lebens, aus denen mit der Zeit auch deutliche äußere Freiräume werden konnten, sofern man sich diese zu erschließen wußte. (Wie die Erinnerung weiß, genügte es dafür zur Not schon, irgendwo in einer Mietskaserne die Tür zu einer leerstehenden Wohnung einzutreten.)

Wenn man jung war und seinen Anspruch auf Freiheit nicht von den degenerierten Erben einer zur jämmerlichen Realität erklärten Staatsutopie aus dem 19. Jahrhundert in eine aus der Anpassungsangst gewonnene „Einsicht in die Notwendigkeit“ umlügen lassen wollte, konnte man wenigstens im Verborgenen den Versuch unternehmen, die Ideen von Mündigkeit und selbstbestimmter Kunst von ihrer ideologischen Verkrustung abzulösen, von der sie bis zur Unkenntlichkeit überzogen waren. Anfangs, und ich meine mit „anfangs“ allein den Moment eines vorsichtigen Beginnens mit sich selbst noch im Bannkreis eines rundum vorgelebten Anpassungszwangs, zählte dafür die innere Haltung mehr als jeder demonstrative Aktivismus. Ich stimmte mit den meisten meiner intimeren Freunde darin überein, daß die real herrschende Nomenklatura eine zu verhärtete Herrschaft sei, um sie im Namen des von ihr Unterdrückten oder Verdrängten aktiv herauszufordern. Es müßte, so ungefähr sahen wir das, eigentlich ausreichend sein, der Macht bei ihrer künftigen Selbstabschaffung (für die es eindringlich sprechende Indizien gab) nicht großartig ins Wort zu fallen.

Was vor dem Hintergrund aus Angst, Diskretion und Verweigerung von vielen erst Anfangenden an Lyrik fabriziert wurde, trug Merkmale einer teils verschwörerisch rumorenden und teils ostentaiven Resignation, die als solche jedoch meiner Meinung nach nur von weiterhin auf die Macht fixierten und dabei zurückgewiesenen Zeitgenossen als Zeichen eines fehlenden Bewußtseins für das Notwendige gedeutet werden konnte. Jede Lyrik, der man zwischen oder auf den Zeilen ansah, daß sie nur geschrieben wurde, um dem Staat die Leviten zu lesen, haben wir ignoriert oder verspottet. Allem, was uns allzu bekannt vorkam, allem, was behauptete, ein Ausdruck oder eine Spiegelung der absurden Realität zu sein, versuchten wir die Maskerade des Unbekannten oder Rätselhaften entgegenzusetzen. Warum sollte man dieses Verhalten nach so langer Zeit neu deuten? Es war, was es war, und zwar ein gesunder Reflex der Abwehr von fremden Ansprüchen auf unser Leben.

„Die da oben wollen nur unser bestes. Aber sie kriegen es nicht“. Der alte Spontispruch hätte ein Motto für das gerade in vager Entstehung begriffene Selbstverständnis abgeben können. Und das ironisch abweisende Verhältnis zu den mißtrauisch-neugierigen oder verärgerten Autoritäten aus Kunst, Kultur und Politik wäre auch mit dem alten Dylan-Refrain: „Something is happening here, but you don’t know what ist is, do you, Mr. Jones.” andeutbar gewesen. Der die Jugend von den Vorzügen der DDR überzeugen sollende Ostrock übrigens, der heute vielen dem Vernehmen nach als eine herzerfrischende Nostalgie-Mucke gilt, stand uns äußerst fern, etwa so fern, wie, sagen wir mal, die Idee, an Wahltagen den Helfern mit der Urne die Tür zu öffnen. Wir bevorzugten den Subterranean Homesick Blues. Quirliges Englisch, das wir nur halb verstanden, war uns lieber als rührendes Rockvereinsdeutsch.

Doch zurück zum Thema. Mag vieles, vielleicht allzuvieles jener sich vielsagend in sich selbst einspinnenden lyrischen Erstabsonderungen nach seriösen Kritierien der Kunst-Beurteilung auch nur knapp bis völlig verfehlt gewesen sein – das spielte für den inneren und äußeren Wert der damals in unseren zerklüfteten Zirkeln behaupteten und zelebrierten Zensurfreiheit keine Rolle. Es spielte auch keine Rolle, daß unsere Auffassung von Zensurfreiheit in ihrer schwarz-weiß-malerischen Einfalt nicht gerade eine ausgereifte war. Was sollte man denn mit Fehlerkorrekturen, wenn man sich einig war, daß das System der Fehler ist. Nicht etwa „Der Fehler liegt im System“, nein, „Der Fehler ist das System“, wie das allgemeine Unbehagen in den frühen 80er Jahren von einem Slogan auf den erschütternden Nenner gebracht wurde.

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